„In Wahrheit sind grad mehr Medienleute und da als Flüchtlinge“, merkt ein Journalist selbstkritisch an. Es ist Dienstag kurz nach 12 Uhr mittags und damit etwas mehr als 12 Stunden her, dass zum ersten Mal die Grenzen zu Österreich für Vertriebene geöffnet worden waren. Mehr als 3.000 wurde die Weiterreise in Richtung Österreich von der ungarischen Regierung Orban erlaubt – zugleich gingen mehr als 20.000 DemonstrantInnen in Wien für eine andere Asylpolitik auf die Straße.

Die Social Media-Kanäle liefen an diesem Dienstag heiß. Es wurde getickert, wann die nächsten Züge an diesem Tag in Wien ankommen würden und welche Spenden gebraucht würden. Um 12 Uhr 12 hätte einer ankommen sollen, doch zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass er sich massiv verspäten würde. An der Anzeigentafel der ÖBB war zudem zu lesen, dass er aus Hegyeshalom kommen würde und nicht aus Budapest.

„Budapester Bahnhof gesperrt“: Diese Nachricht machte denn auch gleich die Runde in den Sozialen Medien. Vor Ort hatte man eher den Eindruck, dass niemand so recht wusste, was nun eigentlich los war und allerlei Gerüchte machten die Runde. Im Übrigen ist das in einer solchen Situation nichts Ungewöhnliches, aber zur Rolle von Medien und Social Media möchte ich lieber einen eigenen Beitrag schreiben.

Geradezu atemlos wurden auch vermeintliche Informationen weitergereicht. Gestresst liefen denn auch immer Freiwillige mit Einkaufswägen durch den Bahnhof, gefüllt mit Wasser, Essen, Baby- oder Hygieneartikeln in Richtung des jeweiligen Bahnsteigs, wo diese Produkte gebraucht würden – oftmals mit Medienmenschen im Schlepptau. „Oft werden die Flüchtlinge gefilmt, bevor man ihnen ein Wasser geben kann“, bemerkte eine Freiwillige.

Der große Ansturm des Vorabends war vorbei, was erklären könnte, warum die Hektik umso größer war: So denn doch was passiert, will niemand den Kürzeren ziehen. Die oftmals widersprüchlichen Informationen sorgten für zusätzliche Nervosität.

„Eigentlich läuft das alles heute ganz ruhig“, sagt ein ÖBB-Mitarbeiter, der Zettel mit Informationen für die Lokführer in der Hand hält, wie sie sich verhalten sollen, sollte etwas Ungewöhnliches passieren. Anders als am Vorabend eben, wo sie nicht so gut vorbereitet waren. Man versuche außerdem, den Menschen den Weg zu ihren Zügen zu weisen – so gut es halt mit den freiwilligen DolmetscherInnen geht, die eben nicht alle Sprachen abdecken können, die von den Flüchtlingen gesprochen werden. Dies scheint  übrigens neben der Lebensmittelausgabe eine der wichtigsten Funktionen der Freiwilligen zu sein.

In Österreich nämlich will kaum jemand bleiben – die österreichische Abschreckungspolitik mit Namen Traiskirchen scheint ihre Früchte zu tragen. Es ist eine wirklich anachronistische Situation, deren Zeugin man an diesem Tag am Westbahnhof werden kann: Während die Politik am ganz offensichtlich gescheiterten Dublin-Abkommen festhält – erst am Tag zuvor hatte die Innenministerin schärfere Grenzkontrollen angekündigt -, scheint für einen kurzen Moment wieder“ Politik mit den Füßen“ gemacht zu werden (können).

So schön diese Szenerie am Westbahnhof war: Sie war nur ein Vorgeschmack dessen, was sich noch nicht einmal innerhalb einer Woche wiederholen würde – und was sich angesichts anhaltender Kriege wohl auch fortsetzen wird: Dass weiterhin mehr Flüchtlinge nach Österreich kommen, als man sich gerne eingestehen würde. Anders als die Politik stellt sich die Zivilgesellschaft dieser Herausforderung.

Und auch wenn der nächste Anarchronismus darin besteht, dass sie mit ihrem Engagement die Politik aus einem großen Teil ihrer Verantwortung entlässt – zumindest wird sich die Politik, werden sich die Parteien nicht mehr aus der Affäre ziehen können, man könne aus Staatsräson nicht anders. Die Zivilgesellschaft zeigt nämlich der Politik gerade auf beeindruckende Art und Weise, was europäische Werte sind und wie einfach sie sich mit Leben erfüllen lassen, wenn man nur will.

Währenddessen hat die EU beschlossen, Kriegsschiffe im Kampf gegen Schlepper einzusetzen – was dem Einsatz gegen Vertriebene gleichzusetzen ist – und könnte kein bezeichnenderes Beispiel für die eigene Ratlosigkeit geben, aber auch des Verrats an den eigenen Werten. Zugleich bin ich sehr froh über diese lebendige und tatkräftige Zivilgesellschaft, weil sie mich Hoffnug schöpfen lässt, dass alles auf lange Sicht besser wird. Ob daraus die Politik wohl was lernt?