Politikwissenschaftlerin Nikola Tietze über Laizismus in Frankreich und warum dieser Integrations-Konflikte verschärfen kann. (Ein Interview für derStandard.at)


Frankreich ist das europäische Land, in dem die meisten Muslime leben. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn die Religionszugehörigkeit der Bürger zu erheben, würde den laizistischen Prinzipien widersprechen, die Grundlage des französischen Staates sind. Im Interview mit derStandard.at schildert Nikola Tietze vom Hamburger Institut für Sozialforschung, warum die Stadtunruhen im Herbst 2005 etwas mit Laizismus und gebrochenen Versprechen zu tun hatten. Das Gespräch führte Sonja Fercher.

derStandard.at: In Österreich ist der Islam in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema der Integrationsdebatten geworden, welche Rolle spielt er in Frankreich?

Nikola Tietze: Auch in Frankreich wird immer stärker auf die religiösen oder kulturellen Aspekte verwiesen. Vor allem seit 90er Jahren werden Zuwanderer verstärkt als Muslime wahrgenommen und nicht mehr als nordafrikanische Einwanderer.

Das hatte sicher viel damit zu tun, dass der Islam in der internationalen Politik zu einer entscheidenden Komponente geworden ist. Der algerische Bürgerkrieg und die damit verbundenen Attentate in den 90er Jahren in Frankreich haben klarerweise dazu beigetragen, dass man auch die algerischen Einwanderer und ihre Kinder mehr durch die islamische Brille wahrgenommen hat.

derStandard.at: Es heißt, Frankreich habe in Bezug auf Religion einen Vorteil, weil es ein streng laizistischer Staat ist. Trifft diese Annahme Ihrer Ansicht nach zu?

Tietze: Ich glaube nicht, dass es die Debatte erleichtert, an vielen Punkten verschärft es sie sogar. Nämlich dann, wenn Menschen ihre Religion zeigen wollen. In Deutschland wird es als Teil der Religionsfreiheit angesehen, dass man Religion auch im öffentlichen Raum dokumentieren darf. Daher dürfen Schülerinnen mit dem Kopftuch in die Schule gehen, es gibt Regelungen für den Sportunterricht und so weiter.

Das ist in Frankreich anders, hier kann der Staat – und das haben die Franzosen ja auch gemacht – religiöse Zeichen verbieten. In diesem Moment können ganz andere Konflikte entstehen.

derStandard.at: Worin besteht Ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen Frankreich und anderen europäischen Staaten?

Tietze: In der Vorstellung des französischen Staates ist es angelegt, dass religiöse Bezüge keine Rolle spielen und in den Privatbereich gehören. Das betrifft den Umgang des Staates mit seinen Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen: Bei Integrationspolitik geht es in Frankreich immer um den einzelnen Bürger und niemals um eine Gemeinschaft wie etwa eine religiöse. Das gilt für Muslime bzw. vielmehr die nordafrikanischen Einwanderer, das hat für die Italiener gegolten, für die Polen und so weiter.

derStandard.at: Sehen Sie auch Vorteile dieses strengen Laizismus?

Tietze: Der Vorteil des französischen Systems ist, dass man unabhängig von Religion und Kultur als Franzose anerkannt wird. In Frankreich sind die Kinder der Einwanderer aus den 60er und 70er Jahren Franzosen geworden – und sie werden auch als solche wahrgenommen. Wenn ich mich als Franzose beschreibe, ist es außerdem einfach nicht üblich, dass ich dazu sage, ob ich Katholik, Protestant, Jude oder Muslim bin.

In Deutschland hingegen können die Kinder von Migranten zwar Deutsche werden, doch für viele bleiben sie dennoch Ausländer. Das macht man fest an Religion und das Kopftuch dokumentiert das sozusagen.

derStandard.at: Und doch gibt es – wie die aktuellen Unruhen erneut zeigen – Probleme. Haben die Franzosen hier nicht einen blinden Fleck, denn sie vergessen über ihrem Beharren, nur ja nicht Herkunft oder Religion berücksichtigen zu wollen, dass es sehr wohl Diskriminierungen gibt, von denen bestimmte Gemeinschaften betroffen sind?

Tietze: Ich glaube, die Lebenslüge des französischen Staates besteht eher darin, dass man den Bürgern quasi im Austausch für die Laizität versprach, dass sie die gleichen sozio-ökonomischen Chancen haben.

Dieses Versprechen aber kann der Staat schon lange nicht mehr halten: Erstens haben sind die sozio-ökonomischen Entwicklungen einfach nicht staatsgesteuert. Zweitens haben sich die Bedingungen der Wirtschaft in Bezug auf den Zeitpunkt verändert, als man das Versprechen der Laizität formuliert hat. Damals mochte das als Ideal noch möglich gewesen sein, aber heute ist es nicht einmal mehr als ein ideelles Versprechen plausibel.

Darin würde ich da große Problem sehen, mit dem die französische Gesellschaft sich auseinandersetzen muss. Denn es gibt gerade bei jungen Muslimen eine Gegenreaktion, da sich viele nun als Muslime deklarieren, weil sie eben nicht die gleichen Chancen haben. Ein ganzer Teil der Stadtunruhen im Herbst 2005 bezieht sich darauf, dass das republikanische Versprechen nicht eingelöst wurde.

derStandard.at: Sarkozy hat eine große Debatte um die „identité nationale“ losgetreten, wie lässt sich diese erklären?

Tietze: Den Hintergrund dafür würde ich in den Stadtunruhen sehen. Diese traumatisieren den französischen Staat und seine Vertreter stärker als jede Frage um den Islam. Die Franzosen haben sie als etwas erlebt, wo die territoriale Einheit auseinander bricht. Deswegen waren die Unruhen auch so präsent im Wahlkampf.

Wobei es nicht nur darum ging, dass Menschen in diesen Vororten sozio-ökonomisch gesehen abgehängt worden sind und sich wehrten. Vielmehr wurden die Unruhen zum Teil – auch von Sarkozy – mit kulturalistischen Argumenten erklärt: Dass diese vielen polygamen Familien aus Afrika in den Vorstädten ihre Kinder nicht unter Kontrolle hätten und deswegen die Kinder nachts auf der Straße seien.

derStandard.at: Sarkozy hat als Innenminister durch seine Ernennung von Muslimen zu Präfekten für Aufregung gesorgt. Unter anderem warf ihm der frühere Minister Azouz Begag vor, dass er Menschen nicht qua ihrer Qualifikation, sondern qua ihrer Religion ernannt hat. Ein Beispiel, dass die strenge Trennung verschwimmt?

Tietze: Diese Debatte zeigte, dass es eben nicht um die Integration von Ausländern geht, sondern um die Art und Weise, wie alle gleichberechtigt an dieser Republik teilhaben können.

Eine ähnliche Debatte gab es, als Sarkozy als Innenminister die Einrichtung des offiziellen Islamrats vorangetrieben hat. Ihm wird vorgeworfen – wie ich finde zu Recht – dass er sich sehr stark eingemischt hat, damit dieser Rat auch wirklich zustande kommt. Der Vorwurf lautete, dass dies den republikanischen Prinzipien widerspreche, weil sich der Staat nicht in innerreligiöse Angelegenheiten einmischen darf.

derStandard.at: Der Rat an sich widerspricht also nicht der Laizität?

Tietze: Nein, hier geht es um eine Gleichstellung der Muslime gegenüber den anderen Konfessionen. Es war eine der großen Forderungen der Muslime, denn es gibt etwas Vergleichbares für Katholiken, Protestanten und Juden. Diese Einrichtungen sind fast alle so alt wie das Prinzip der Laizität selbst, das es seit 1905 gibt.

Zur Person:

Nikola Tietze ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung sowie am Pariser Institut d´Analyse et d´Intervention Soziologique. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Religionspolitik sowie die Rolle der Religion im Zusammenhang mit Immigration. Unter anderem publizierte sie eine Studie mit dem Titel „Islamische Identitäten“, in dem sie Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich verglichen hat.