Drogenhandel, Kriminalität, rechtsfreie Zonen, Bandenkriege: Als ich vergangenen Frühling in Paris war, jagte eine Negativschlagzeile die andere, wenn es um Marseille ging. Als ich vor kurzem mit Freuden verkündete, dass ich nun endlich in diese Stadt fahren würde, die ich schon so lange entdecken möchte, war ich wenig überrascht, dass mir von manchen ein „Pass auf Dich auf“ auf den Weg gegeben wurde. Schließlich habe ich noch die Geschichten im Kopf, die ich damals gelesen habe, und schon die Erinnerung daran ließ mir erneut kalte Schauer über den Rücken laufen. Doch mich deshalb davon abhalten lassen, diese Stadt endlich zu besuchen? Iwo!
Un quartier populaire: Das sei nun einmal die Gegend, in der ich meine Unterkunft bezogen habe, erklärte mir meine Mitbewohnerin. (Eine bessere Übersetzung als Arbeiterviertel will mir gerade nicht einfallen, auch wenn mir der Begriff recht ungelenk vorkommt.) Doch gefährlicher als andere Großstädte? Iwo! Natürlich müsse man aufpassen. Natürlich würde auch sie es vermeiden, mitten in der Nacht noch dort alleine unterwegs zu sein. Aber ansonsten?
Gestern Abend wurde ich gleich selbst getestet und ich sag´s gleich: Ich habe ordentlich geschwitzt, musste aber am Ende laut über mich selbst lachen. Die Geschichte: Ich war aus der U-Bahn ausgestiegen und hatte mich prompt verlaufen. Es war schon dunkel und entsprechend unwohl fühlte ich mich. Aber beirren lassen wollte ich mich auch wieder nicht. Also ging ich festen Schrittes voran, ein Glück, dass es Smartphones gibt – auf Roaming sei in dem Fall gesch***.
Glücklicherweise hatte ich schnell die Orientierung wieder gefunden – und dann das nächste Glück: Vor mir nahmen gleich zwei Personen den gleichen Weg. Es war eine Frau in meinem Alter und ein humpelnder Mann, der etwas jünger zu sein schien. Ich ihnen also nach, in Respektabstand versteht sich, aber auch nicht zu weit, Hauptsache nicht allein. Zugleich sagte ich mir: Hallo, es ist halb 9, Du wirst doch nicht um diese Uhrzeit schon die Nerven wegwerfen? Aber um ehrlich zu sein: Mir war ganz schön heiß, und das lag nicht nur daran, dass es noch warm ist in Marseille.
Immer wieder mussten wir an Menschen vorbeigehen, die auf der Straße rumstanden. Immer wieder waren es junge Männer, die mit ihrem düsteren Look nicht gerade einen vertrauenserweckenden Eindruck machten. Als beiden vor mir auf die Straße wechselten, tat ich es ihnen gleich, möglichs unauffällig, versteht sich. Detto, wenn sie wieder auf den Bürgersteig zurück wechselten.
So zitterte ich also innerlich vor mich hin, als mich auf einmal etwas stutzig machte: Die Frau vor mir begann, immer wieder einen Blick nach Hinten zu werfen, ebenfalls bemüht unauffällig. Auf einmal bog sie in einen Hauseingang ab und drehte sich ganz zu mir um – und mir wurde klar, dass sie schwer erleichtert war, mich endlich von vorne zu sehen und zu erkennen, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Da musste ich zum ersten Mal innerlich lachen. Innerlich laut aufgelacht habe ich allerdings, als der Mann vor mir ebenfalls begann, sich umzusehen – möglichst unauffällig, versteht sich – und mir klar wurde: So sehr ich innerlich verunsichert war, von außen war das ganz und gar nicht, spürbar, in Verbindung mit den klappernden Schuhen erweckte ich sogar einen geradezu bedrohlichen Eindruck.
Es war eine aufschlussreiche Erfahrung. Für das eigene Sicherheitsgefühl empfiehlt es sich natürlich, solche Strecken einmal bei Tage abzugehen, um sich ein Bild machen zu können. Und wenn es gar zu unangenehm wird, sollte man nicht zögern ein Taxi zu rufen. Bei mir siegte bei allem Zittern zum Glück doch das Gefühl, dass es noch viel zu früh war, um sich ernsthaft Sorgen zu machen. Zugleich beschwor ich mich immer wieder, dass es doch kein Wunder ist, wenn niemand in einer Wohngegend auf der Straße ist. Das „Sahnehäubchen“ war dann die Erkenntnis, dass es einen Punkt gab, ab dem ich denen, in deren Schutz ich mich fortbewegen wollte, unheimlich wurde.
Insgesamt finde ich es beschämend, dass ich all diese Negativschlagzeilen dann doch so nah an mich herankommen ließ. Allerdings haben diese auch bei den Marseillais/es ihre Spuren hinterlassen, wie ich heute mitereleben durfte. Ich war am späten Nachmittag in der Nähe des alten Hafens in einem Schuhgeschäft, als auf einmal ein Knall zu hören war – vermutlich von einer Fehlzündung eines Mopeds. Auf einmal sagte einer der Verkäufer: „Règlement de compte“, was so viel wie Bandenkrieg bedeutet (wortwörtlich übersetzt heißt es Abrechnung).
Kurz war es still, doch dann lachten im Geschäft alle laut auf. Aber irgendwie war in dem Lachen auch Erleichterung zu spüren – zumindest spürte ich sie bei mir: Es ist einfach ein Thema und so ganz genau weiß man schlichtweg nicht, wie man damit umgehen soll. Aber wen wundert´s?
Mich erinnert es an mein Ankommen in Paris vor mehr als zehn Jahren. Damals hieß es auch: Pass da auf, geh dort nicht hin. Manches stimmte, das meiste aber war schwer übertrieben. Was immer gilt ist ein Rat: Aufmerksam sein, wenn man zum ersten Mal in einer fremden Stadt ist. Aber das ist in Marseille so, das ist in Paris so, ja, das ist auch in Wien so oder an jedem anderen x-beliebigen TouristInnen-Ziel. Was ich aus meiner Pariser Erfahrung auch mitnehme: Oftmals kann einem/r in TouristInnen-Gegenden mehr passieren. Denn sehr oft lauern die Gefahren da, wo die Umgebung gar so harmlos scheint. Meistens sind es nämlich keineswegs Bandenkriege, in die man hineingezogen werden könnte. Vielmehr ist es die eigene Sorglosigkeit, die Geldbörse da zu verstauen, wo schnell jemand anderer zugreifen kann, wenn man gerade allzu sehr verzückt auf eine Sehenswürdigkeit starrt.
Nachwort: Meine Mitbewohnerin erzählte mir heute, dass sie eigentlich schon darauf bauen würde, dass sie länger brauche, wenn sie zur Métro geht. Polizeikontrollen sind dafür aber nicht verantwortlich. Vielmehr erzählte sie mir, dass einfach damit rechnen müsse, dass sie vielleicht von einem älteren Herren angesprochen werde und eine Weile mit ihm plaudern würde oder Ähnliches. Unter anderem erzählte sie mir, dass sie eines Tages mit Einkäufen vollbepackt auf dem Weg nach Hause war. Auf einmal blieb ein Mann stehen und bot ihr an, einen Teil ihrer Sachen zu tragen, getragen hat er die Lasten bis zu ihrer Haustüre. Das ist es, was sie an diesem Viertel mag, erklärte sie mir. Ich verstehe das!
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