Welche Bedeutung hat Religion im Migrationsprozess und woran liegt es, dass die Religiosität in der Migration zunimmt? Religionswissenschafter und Migrationsforscher Karsten Lehmann erklärt. warum es so schwierig ist, auf diese Fragen zu antworten und appelliert für eine differenzierte Betrachtung. Ein Interview für derStandard.at.

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derStandard.at: Es heißt, dass Religiosität bei MigrantInnen mitunter zunimmt, weil sie als Identifikation oder als Anhaltpunkt in der Fremde dienen kann. Wie sehen Sie das?

Lehmann: Auf der individuellen Ebene ist es so gut wie unmöglich, eine klare Antwort zu geben. Aus dem einfachen Grund, weil man ebenso wenig sagen kann, dass es DEN Islam gibt, wie DAS Christentum oder DEN Buddhismus.

Die Zugehörigkeit zu einer Religion ist einmal etwas, das man selbst empfindet, zum anderen, was andere einem zuschreiben. Man kann sagen „Ich bin Buddhist“ und man fühlt sich als Buddhist. Es kann aber genauso passieren, dass einem andere Menschen immer wieder sagen: „Du bist doch Buddhist, Du müsstest das doch so und so machen.“ Es ist ein häufig beobachtbares Phänomen, dass diese religiösen Zuschreibungen in der Migration an Bedeutung gewinnen. Damit werden Migranten teilweise dazu veranlasst, diese Rolle auch auszufüllen.

Auf der anderen Seite ist Migration auch eine neue Situation, mit der man erst einmal zurecht kommen muss. Da tendiert man dazu, auf vorhandene Muster zurückzugreifen. Wenn ich also etwas Neues erlebe, ist es mir immer recht, ich habe jemanden oder ich habe Vorstellungen oder Regeln, die mir dabei helfen. Ein solches Regelwerk kann Religion sein.

derStandard.at: Migranten werden oft pauschal auf ihre Religion reduziert und man vergisst, welche Vielfalt es unter Migranten gibt.

Lehmann: Ja, mit den 60er Jahren sind Zuwanderer nach Europa gekommen, die sich nicht-christlichen Traditionen verpflichtet fühlen. Sie kamen aber nicht nur aus einem Land, zum Beispiel waren es in Deutschland nicht nur Türken, sondern Migranten aus den unterschiedlichsten Ländern, die auf unterschiedlichste Arten und Weisen durch den Islam geprägt sind.

Die Pluralität potenziert sich also: Es ist nur die religiöse Pluralität aus der Türkei, sondern auch aus dem Balkan usw. Das gilt auch für Amerika und andere europäische Länder.

derStandard.at: Gehen denn MigrantInnen überhaupt auf die gleiche Art und Weise mit Religion um?

Lehmann: Nein. Zum einen ist es nur allzu menschlich, dass man ganz unterschiedliche Arten von Religiosität haben kann. Zum anderen funktioniert die Zugehörigkeit zu muslimischen Gruppen sehr viel stärker dadurch, wo man wohnt: Ich gehe also in die Gemeinde, die am nächsten liegt.

Das ist nicht nur eine Sache von „persönlicher Bequemlichkeit“, sondern das hängt damit zusammen, wie diese Religion funktioniert. Im Islam ist das Verhältnis zwischen dem einzelnen Muslim und Gott/Allah ein sehr individuelles ist als wir das aus dem Christentum kennen. Im Christentum, vor allem im Katholizismus, funktioniert das viel stärker über die Kirche, im Islam gibt es eine andere Vorstellung.

Das widerspricht ein bisschen dem allgemeinen Vorurteil. Normalerweise nehmen wir an, der Islam sei etwas über-individuelles. Das stimmt in dem Fall nicht, das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und Gott hat eine viel, viel größere Bedeutung als die Gemeinde.

derStandard.at: Wie sieht es mit anderen Religionsgemeinschaften aus?

Lehmann: Es ist unglaublich, wie viele unterschiedliche christliche Migrantengemeinden es gibt, das ist ein ganz, ganz breites Spektrum. Am Bekanntesten sind jene aus dem Mittelmeerraum, aber es gibt auch eine ganze Reihe asiatischer oder englischsprachiger Gemeinden oder auch Gemeinden von Migranten aus Afrika, die sich in Deutschland etabliert haben, teilweise innerhalb der Kirchen oder Konfessionen, teilweise aber auch außerhalb. Das ist ein Bereich, den man aber nur ganz selten wahrnimmt.

derStandard.at: Genau das aber kann auch problematisch sein, Stichwort Ghettoisierung, die als Hindernis bei der Integration verstanden wird.

Lehmann: Ja und nein, nein und ja. Ich finde diese Frage nach der individuellen Integration eine ganz, ganz schwierige. Überlegen Sie sich, welche Maßstäbe Sie anlegen wollen, oder überlegen Sie sich mal für sich selbst, wie weit Sie über Ihre beruflichen und sozialen Netzwerke hinaus in die österreichische Gesellschaft integriert sind.

Das ist eben der Punkt: Welches Maß an Integration fordert man von Migranten? Wenn man das gleiche Maß anlegen würde an einer ganzen Reihe von Österreichern oder Deutschen, Franzosen oder Engländern, dann wären diese aber ganz schlecht integriert. Man darf hier keine künstlichen Kriterien entwickeln.

derStandard.at: Gehört es aber nicht zu einer modernen Gesellschaft dazu, Andersgläubigen zuzugestehen, ihre Religion frei auszuüben?

Lehmann: Klar. Das muss eine Gesellschaft schaffen, dafür gibt es Religionsfreiheit, und das ist auch etwas anderes als Tolerieren. Tolerieren ist ein Konzept des Absolutismus, da sagte der Landesherr „Ich toleriere, dass es nicht nur die Lutheraner, sondern auch die Reformierten gibt“, und die hatten dann bestimmte Rechte und haben bestimmte Pflichten. Das ist immer ein Gnadenakt und auch immer eine Frage von Macht und Herrschaft: Ich habe die Möglichkeit, muss aber nicht.

Religionsfreiheit bedeutet: Hier haben wir ein Recht. Religionsfreiheit ist ein individuelles Recht, also ein Recht des Individuums gegenüber dem Staat, und zwar positiv wie negativ: Das Individuum hat das Recht religiös zu sein oder auch nicht. (Sonja Fercher, derStandard.at, 21.5.2007)