Migrationshistorikerin Blanc-Chaléard über die erste große Massenzuwanderung nach Frankreich und die Probleme. (Ein Interview für derStandard.at)


Die Italiener stellten die erste proletarische Massenzuwanderung Frankreichs dar. Sie setzte Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der industriellen Revolution ein. Bis heute sind sie die größte Gruppe von MigrantInnen, die sich auf Dauer niedergelassen haben und vollständig in der französischen Gesellschaft aufgegangen sind. Das war allerdings nicht immer so. Im Interview mit derStandard.at erklärt die Migrationshistorikerin Marie-Claude Blanc-Chaléard, mit welchen Problemen die Italiener konfrontiert waren. Ihrer Ansicht nach wurde die Assimilierung von ihnen sogar stärker gefordert als von den heutigen Zuwanderern. Die Fragen stellte Sonja Fercher.

derStandard.at: Sie haben die Situation italienischer Migranten in Frankreich untersucht. Ähneln eigentlich die Debatten von damals jenen von heute, sprich wurde damals auch schon deren Integration oder gar Assimilierung gefordert?

Marie-Claude Blanc-Chaléard: Sie wurde von den Italienern sogar weitaus stärker gefordert als von den Migranten von heute. Aber es war eben eine andere Zeit, denn die kulturelle Identität wurde früher anders verstanden als heute. Außerdem kamen die Migranten großteils aus ländlichen Regionen und sahen in Frankreich ein modernes Land, dessen „Zivilisation“ anzunehmen etwas Positives war.

derStandard.at: Wie ging man mit den Italienern um?

Blanc-Chaléard: Man begegnete ihnen mit Geringschätzung und Feindseligkeit, denn sie stellten für die französischen Arbeiter eine Konkurrenz dar.

Diese Skepsis ihnen gegenüber wurde dadurch verstärkt, dass Italien ein Verbündeter Deutschlands war. Zudem wurden sie als Symbol des anarchistischen Terrorismus gesehen, später des Faschismus oder als subversive Antifaschisten oder Kommunisten. Eine Vielzahl historischer Quellen belegt, dass die Italiener damals die „Araber des 19. Jahrhunderts“ waren und dass sie immer wieder Opfer von Lynchjustiz wurden.

derStandard.at: Welche Lektionen lassen sich Ihrer Ansicht aus der Beispiel der Italiener lernen?

Blanc-Chaléard: Wenn man sich heute die Herkunft der in Frankreich lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ansieht, so liegt Italien auf dem ersten Platz. Die Italiener kamen aber nicht alle auf einmal, sondern in mehreren Zuwanderungswellen: Es kamen Katholiken, Antiklerikale, Faschisten, Antifaschisten, Migranten aus dem ländlichen Raum, aus der Industrie oder aus den Städten.

Zeitlich ersteckten sich diese Wellen über ein Jahrhundert. Im Laufe dieser langen Geschichte der Migration wurden Strukturen geschaffen, von denen die nachfolgenden Generationen profitierten – wie zum Beispiel die Gründung von Baufirmen.

Später haben die Migranten vor allem vom französischen Wirtschaftswunder nach Ende des zweiten Weltkrieges profitiert. Dieses ermöglichte ihnen eine sehr gute soziale Integration. So wurden sie gewissermaßen für die früher erlittenen Schwierigkeiten entschädigt.

derStandard.at: Worin liegen Unterschiede zur damaligen Zeit?

Blanc-Chaléard: Es ist klar, dass sich die Bedingungen für die Integration verändert haben. Trotz des Misstrauens den Italienern gegenüber konnten sie sich damals eher mit den Arbeitern vermischen, die selbst in einer prekären Situation waren und von denen ein Teil der Idee eines internationalen Klassenkampfes anhing.

Heute ist der Individualismus viel stärker, die Anforderungen in der Schule sind größer geworden. Nicht zuletzt hat sich die soziale Kluft verschlimmert, soziale haben inzwischen kulturelle Unterschiede überholt.

Zur Person:

Die Historikerin Marie-Claude Blanc-Chaléard beschäftigte sich in mehreren Studien mit der Situation der italienischen MigrantInnen und deren Integration in Frankreich. Sie ist außerdem Autorin des Buches „Histoire de l’immigration“ (Verlag „La Découverte“).