Der französische Ex-Profifußballer und Anti-Rassismus-Aktivist im Interview über den Einfluss der Geschichte auf Rassismus von heute und Vorbehalte gegenüber dem Begriff „Vielfalt“. Erschienen in: www.m-media.or.at

***

Menschen wie Tiere in Käfige sperren und in Zoos einem breiten Publikum zugänglich machen: Es ist noch nicht so lange her, dass man in Europa genau das beispielsweise mit AfrikanerInnen in so genannten Völkerschauen machte. In der Ausstellung „Ausstellungen. Die Erfindung des Wilden“, kuratiert vom früheren französischen Topfußballer Lilian Thuram, wurde dieses dunkle Kapitel der europäischen Geschichte in Frankreich kürzlich zum Thema gemacht. Im Interview mit Sonja Fercher erklärt Thuram, warum es für das Verständnis von rassistischen Vorurteilen wichtig ist, sich dieser Vergangenheit bewusst zu werden. Außerdem nimmt er zur aktuellen französischen Politik Stellung und erklärt, welche Vorbehalte er dem Modebegriff „Vielfalt“ gegenüber hat.

***

Der neu gewählte französische Präsident François Hollande hat bei der Ernennung seiner Regierung sehr viel Wert darauf gelegt, dass sie vielfältig ist. Wird dies nun allmählich zur Normalität?

Das hoffe ich. Allerdings bin ich von dem Begriff Vielfalt nicht besonders begeistert. Denn damit steckt man Menschen erneut in bestimmte Schubladen, die historische Ursprünge haben. Ist von der Vielfalt der Regierung die Rede, spricht man leider nicht vom Alter oder von vielfältigen Musik- oder Literaturgeschmäckern. Vielmehr meint man Hautfarben oder Religionen. Es wäre sehr interessant die Regierung einmal darauf zu überprüfen, ob in ihr verschiedene soziale Milieus vertreten sind.

Zum Thema Vielfalt gibt es in ihrem Buch “Manifest für die Gleichheit“ einen Cartoon, auf dem ein Weißer zu sehen ist, der einem Schwarzen das Wort „vielfältig“ auf die Stirn stempelt. Darüber steht „Früher hat man die Sklaven mit den Eisen markiert.“ Der Schwarze kommentiert das mit den Worten „Das ist der Fortschritt“. Ist es wirklich so scheinheilig?

Es gibt ja diesen Begriff „sichtbare Minderheit“. Wenn es diese gibt, dann gibt es auch eine unsichtbare Mehrheit. Das sind die Menschen weißer Hautfarbe. Oder der Begriff „farbiger Mensch“: Was soll das heißen? Dass man mit „farbige Menschen“ jene mit schwarzer Hautfarbe bezeichnet, ist doch interessant. Dies aufzuzeigen ist wichtig, um sich mit dem Thema sinnvoll auseinandersetzen zu können. Dabei spielt die Vergangenheit eine wichtige Rolle, ob man nun will oder nicht: Sie beeinflusst unser Sein, sie beeinflusst unsere Art zu denken. Deshalb müssen wir uns dieser Prägungen bewusst werden, um sie hinter uns lassen zu können.

Sie haben einmal Aussagen des früheren Innenministers Claude Guéant mit den Worten kommentiert, das Ziel der Polarisierung in „wir“ und „die anderen“ sei die Schaffung zweier Lager: „Wir“ und „die anderen, die hinter Gittern“ sind. Ist das nicht ein wenig übertrieben?

Zumindest in der Vergangenheit war das so. Das heißt, es gab „Zivilisierte“ und „Nicht-Zivilisierte“. Diese Ideen wurden über die Generationen hinweg unbewusst weitergegeben. Es ist immerhin noch nicht so lange her, dass man „die anderen“ in Ausstellungen besichtigt hat, in denen man sie als „Wilde“ gezeigt hat. Das letzte Mal war das bei der Weltausstellung in Brüssel im Jahr 1958 der Fall. Wir haben nun das Jahr 2012, sprich unsere Großeltern sind noch in solche Ausstellungen gegangen und wurden somit ganz automatisch dadurch geprägt.

Doch ist die Geschichte heute wirklich immer noch so prägend?

Für mein Buch „Meine schwarzen Sterne“ haben wir eine Umfrage durchführen lassen. Leider sagten 55 Prozent der Befragten, dass es mehrere Rassen gäbe, die sich aufgrund der Hautfarbe unterschieden. Das ist auch total verständlich, immerhin ist es noch nicht so lange her, dass man den Begriff „Rasse“ verworfen wurde: Die Rasse ist Basis für die Segregation in den USA, das war in den 1960er Jahren, sie ist Basis für die Apartheid, da sind wir in den 1980er Jahren, und sie war Thema während der Entkolonialisierung, das war in den 1960er Jahren. Rassismus hat eine lange Geschichte.

Meine Mutter etwa kam nach der Ausstellung zu mir, sie war schockiert, weil sie diese Geschichte nicht kannte. Sie sagte mir dann diesen Satz: „Weißt du, ich habe sehr lange geglaubt, dass die Weißen intelligenter sind als die Schwarzen.“ Ich finde es gut, dass das ausgesprochen wird, denn dann kann man darüber diskutieren. Ich sagte zu ihr: „Das ist völlig normal, Du bist auf den Antillen geboren, einem Sklavengebiet.“ Man hat die Schwarzen dort glauben lassen, dass sie den Weißen unterlegen seien. Und meine Mutter ist immerhin Jahrgang 1947! Sie ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Schwarze lieber Menschen mit heller Hautfarbe geheiratet haben, damit die Kinder eine Hautfarbe „chapée“ bekamen, wie man auf Kreolisch sagt. „Chapé“ heißt gerettet, denn es kommt vom Wort „échappé“, also entkommen – also sozusagen dem Schwarz entkommen. Über all diese Dinge zu sprechen ist wichtig.

Mir ist sehr wichtig, dass man versteht, dass jeder von uns auf eine bestimmte Art und Weise konditioniert ist. Sprich der Überlegenheitskomplex, der sich im Laufe der Geschichte entwickelt hat, ist immer noch da. Ebenso haben jene, die hinter Gittern waren, ein Gefühl der Unterlegenheit entwickelt, das geht Hand in Hand. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir darüber offen und ruhig sprechen, denn nur so ist es uns möglich, die Welt mit den richtigen Brillen wahrzunehmen und uns gegenseitig in erster Linie als Menschen wahrzunehmen.

Noch einmal zurück zur aktuellen Politik: Am Wahlabend ist in Frankreich eine Polemik ausgebrochen, weil Jugendliche an die Bastille, wo die AnhängerInnen den Wahlerfolg von François Hollande feierten, Fahnen ihrer „Herkunftsländer“ schwenkten. Wie stehen Sie dazu?

Manche Leute vergessen einfach, dass jeder von uns eine komplexe Identität hat. Da gibt es die Herkunftsländer der Eltern oder der Großeltern und die formen natürlich die Identität. Ich denke, ein großes Problem ist die Vorstellung von Reinheit. Wenn man etwa „Französischstämmigen“ spricht: Was soll das heißen? Dass es pure Franzosen gibt? Ein Urvolk, das Frankreich oder Österreich gegründet hat? Was für ein Unsinn! Diese Vorstellung aber ist die Ursache für viele Probleme.

Natürlich, wir sprechen von der österreichischen Kultur und ich will nicht sagen, dass es die nicht gibt. Aber ein 60-jähriger Österreicher hat nicht die gleiche Kultur wie ein 15-jähriger, ebenso wenig 15-Jähriger wie ein 30-Jähriger. Und die österreichische Kultur des 18. Jahrhunderts hat wenig mit der heutigen gemein.

Man übersieht, dass Kultur und Identität auch etwas sehr Persönliches ist. Ich zum Beispiel bin Franzose, bin auf den Antillen geboren, habe in Italien gelebt, in Spanien. All das macht mich aus und doch bin ich Franzose. Kurz: Es gibt Millionen Arten, Franzose zu sein.

In der Ausstellung wird auch ein elsässisches Dorf gezeigt. Warum das?

Das ist wichtig, denn in jeder Gesellschaft gibt es Gruppen, die stigmatisiert werden. Ich spreche immer vom Comic „La Noiraude“, in dem es eine schwarze Kuh gibt, die dumm ist, und eine weiße, die sehr intelligent ist. Ebenso gibt es die „Bécassine“, das ist ein Comic, in dem Bretonen vorkommen, die keinen Mund haben und daher nicht sprechen können. Wenn man von Kultur spricht, spricht man von der Kultur der Reichen. Sprich früher haben die Reichen die Bretonen oder die Elsässer stigmatisiert, indem man sagte, dass sie archaisch sind.

Wenn man davon spricht, dass die europäischen Gesellschaften es nicht geschafft hätten, die Multikulturalität zu leben, dann ist das ein Witz. Das ist ein Witz! Wie lange gibt es in Frankreich schon Bretonen, Elsässer, Basken? Frankreich ist seit Menschengedenken multikulturell und wird es immer sein. Ich kenne Österreich nicht, aber ich nehme an, es ist auch multikulturell.

Das ist vielleicht nicht so sichtbar wie in Frankreich, aber: Ja.

…weil Multikulturalismus keine Frage der Hautfarbe ist. Sagen Sie, wie ist das in Österreich: Wer, sagt man, hat Amerika entdeckt?

Natürlich Christoph Kolumbus.

Sehen Sie?

Aber nein, die Wikinger waren schon vorher dort…

(lacht) Aber das ist doch verrückt! Das ist ungefähr so, als würde jemand in dieses Restaurant und zu unserem Tisch kommen und sagen: „Diesen Tisch habe ich entdeckt.“ Da würden wir auch protestieren. Na ja, und bevor Christof Kolumbus nach Amerika kam, lebten dort schon Menschen. Und trotzdem sagt man, dass Kolumbus Amerika entdeckt hat, ob in Frankreich, Spanien, Italien. Das ist verrückt! Allein das zeigt, wie sehr Europa sich als überlegen definiert. Darüber muss man diskutieren, aber in aller Ruhe. Das Problem ist, dass es schwer zu akzeptieren ist, dass man aufgrund seiner weißen Hautfarbe gewisse Vorteile hat.