In betreuten WGs werden Kinder und Jugendliche untergebracht, die aus welchen Gründen auch immer nicht bei den Eltern wohnen können. (Erschienen in: Arbeit&Wirtschaft, Oktober 2013)

Ein Haus im Grünen mit einem Garten: Welches Stadtkind hat nicht schon einmal davon geträumt, statt in der Wohnung so zu wohnen? Die Kinder in einem Haus im 23. Bezirk träumen allerdings von etwas anderem: Die Jüngeren wollen wieder bei den Eltern wohnen, die Älteren träumen vielleicht sogar schon von der eigenen Wohnung. Denn das moderne, neue Haus in der Nähe des Maurer Hauptplatzes gehört der Volkshilfe. Darin ist eine WG, in der Kinder oder Jugendliche untergebracht sind, die aus welchen Gründen auch immer nicht bei ihren Eltern wohnen können. So schön wie dieses Haus in Mauer sind natürlich nicht alle Häuser der Volkshilfe Wien. Eines haben sie aber immer: einen Garten. Im Raum Wien sind WGs heute die Standardunterkunft für Kinder wie diese, das Kinderheim ist Geschichte. Im Moment betreibt die Volkshilfe Wien neun solcher Häuser, alle liegen im Westen Wiens.

„Die letzte Ressource“

In WGs wie jener in Mauer wohnen 80 bis 85 Kinder im Alter von drei bis 18 Jahren. „Im Alter von drei Jahren sind Kinder für Pflegeeltern oft schon zu alt“, erklärt Sozialpädagoge Daniel Svacina das niedrige Alter der WG-Nesthäkchen. Er ist Leiter der Wohngemeinschaften bei der Volkshilfe Wien. Es ist 16 Uhr, die Maurer WG ist noch leer, nur eine Jugendliche ist in ihrem Zimmer, alle anderen sind ausgeflogen. „Was macht ihr da?“, fragt sie, um nach erhaltener Antwort sofort wieder schüchtern von dannen zu ziehen. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, wie Sozialpädagoge Svacina erklärt: „In ungefähr einer Stunde geht’s rund hier.“ Die Kinder und Jugendlichen kommen allesamt aus schwierigen Verhältnissen und hinter ihnen liegt bereits ein langer Prozess. Nur wenn sich im Zuge dieses Prozesses herausstellt, dass vorübergehend kein Weg daran vorbeiführt, als das Kind von den Eltern zu trennen, kommt die WG ins Spiel. Sie ist „die letzte Ressource“, betont Svacina. Wenn dem so ist, zieht das Kind bzw. der oder die Jugendliche in die WG ein.

Entscheidende Bezugspersonen

Wie schaffen sich Kinder und Jugendliche in einer WG mit fremden Kindern, die ebenfalls Probleme haben, eigentlich Geborgenheit? Ist es das Lieblingsspielzeug, Poster der Lieblingsbands, die Lieblingsmusik oder eine besondere Bettdecke? Das sei sehr individuell, meint Svacina dazu. Eines aber sei immer gleich: Zentral sind menschliche Beziehungen. Eine Feststellung, die Entwicklungspsychologin Barbara Supper von der Universität Wien „wirklich nur unterstreichen“ kann: „Geborgenheit wird über Beziehungen hergestellt.“ Das kuschelige Kinderzimmer oder tolle Spiele seien schön. „Entscheidend ist aber, dass Kinder eine Person haben, die auf sie eingeht, bei der sie das Gefühl haben, dass sie weiß, was in ihnen vorgeht, auf sie zugeht und von der sie Schutz bekommen.“

Kinder könnten grundsätzlich mit jedem Erwachsenen eine „Bindungsbeziehung“ aufbauen, auch wenn die Eltern natürlich eine wesentliche Rolle spielen, so Entwicklungspsychologin Supper.
In völlig neuer Umgebung bestehe „der Knackpunkt“ darin, dass sie sich von den Eltern zumindest kurzfristig lösen und neue Beziehungen aufbauen. „Die Kinder können aber differenzieren: Zu Hause bleibt trotzdem zu Hause.“ Für Kinder, die aus schwierigen Verhältnissen kommen, sei es oftmals gut, wenn sie lernen, dass es eine Person gibt, auf die sie sich verlassen können und die auch offen in dem Sinn ist, dass sie sich mit allen Anliegen an sie wenden können. „Es ist nämlich für die weitere Entwicklung des Kindes wichtig, dass sie wenigstens in einem anderen Setting oder mit anderen Personen lernen, dass eine andere Person für sie da ist – und zwar gerade dann, wenn es unaufgearbeitete Probleme gibt“, erklärt Supper.

„Fallführende“ BetreuerInnen

Wichtig sei zudem, dass es eine zentrale Bezugsperson gibt. Bei der Volkshilfe gibt es immer eine Person, die „fallführend“ ist und den Fall „in- und auswendig“ kennt, wie Volkshilfe-Mitarbeiter Svacina sagt.

Schutzraum WG

Um einen möglichst sanften Übergang in die WG zu ermöglichen, müsse man einen Rahmen schaffen, in dem sich die Kinder und Jugendlichen wohl fühlen. Ein Teil dieses Rahmens sei, dass man Kinder in Entscheidungen mit einbeziehe, die sie betreffen. „Partizipation ist das Schlagwort“, sagt Svacina: „Es ist wichtig, dass sie das Recht haben, über Dinge aus ihrem Alltag mit zu entscheiden und um ihre Meinung gefragt werden.“ Mit einem Vorbehalt: Mitsprache nur da, wo es für das Kind Sinn mache, nicht aber, „wo es gut ist, wenn es nicht mitsprechen muss“. Als Beispiel nennt Svacina einen Zehnjährigen, der immer auf seine zweijährige Schwester aufpassen musste, weil die Eltern im Wirtshaus waren. „Da versuchen wir natürlich, ihnen solche überfordernde Aufgaben abzunehmen.“

Einen anderen Rahmen für die Kinder bildet die Strukturierung des Alltags. „Schließlich wohnen da acht Leute miteinander, die sehr oft aus strukturlosen Verhältnissen kommen. Da ist es wichtig, dass sie lernen, den Rahmen zu respektieren und zu erkennen, dass ihnen ein solcher Rahmen auch Sicherheit bietet“, so Svacina. Dazu gehörten regelmäßige Essenszeiten, aber natürlich auch die Organisation von Morgen- oder Abendhygiene. Gekocht wird gemeinsam und am Wochenende werden Freizeitaktivitäten für jene Kinder und Jugendlichen organisiert, die ihre Wochenenden nicht bei den Eltern verbringen können.

Bei allen gemeinsamen Aktivitäten sei es auch wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen einen Rückzugsraum haben: „Deshalb wohnen in einem Zimmer immer maximal zwei Kinder“, erklärt Svacina. Zugleich werde sehr genau geschaut, wie die Kinder zusammenpassen. Dennoch sind Konflikte natürlich unvermeidlich, wo mehrere Menschen zusammenleben. In diesem Fall sei es wichtig ein Setting zu schaffen, in dem die Ursachen erforscht werden können. „Wir versuchen herauszufinden, woher die Aggression kommt. Kinder bringen oft einen großen Rucksack an Wut und Trauer mit. Die WG ist aber ein Schutzraum, und wenn es nicht gelingt, den Konflikt zu lösen, müssen wir die Kinder im schlimmsten Fall trennen“, so Svacina. Allerdings geschehe das nur im schlimmsten Fall, denn grundsätzlich würden die SozialpädagogInnen versuchen dafür Vorsorge zu treffen, dass es nicht wieder passiert.

Oberstes Prinzip: Zurück nach Hause

„Die Rückführung in die Familie“: So lautet das „oberste Prinzip“ der sozialpädagogischen Arbeit in den WGs. Durch die anderweitige Unterkunft der Kinder werde den Eltern die Möglichkeit gegeben, ihre Probleme anzugehen und im Idealfall zumindest so weit zu lösen, dass die Kinder wieder nach Hause zurückkehren können, erklärt Svacina. Zugleich sieht er genau da ein großes Manko, denn aus seiner Sicht könnten die Eltern noch deutlich besser betreut werden.

Bleiben Jugendliche dennoch bis zur Volljährigkeit in der WG, sorgt die Volkshilfe für einen sanften Übergang von der WG in die Selbstständigkeit. Zu diesem Zweck gibt es eine sogenannte Trainingswohnung, gleich neben der WG. „Das heißt, der Jugendliche muss nur eine Tür öffnen und findet Ansprechpersonen“, so Svacina. Wenn das gut funktioniert, wird der oder die Betroffene Schritt für Schritt weiter entfernt untergebracht und weiterhin betreut, bis diese Betreuung nicht mehr nötig ist. Auf Zahlen will sich der Volkshilfe-Mitarbeiter nicht festlegen: „Es ist sowohl Fakt, dass einige wieder rückgeführt werden konnten, als auch dass es Kinder gibt, die bis zur Volljährigkeit bei uns bleiben.“ Ziel sei das aber eben keinesfalls. Daher sei man auch sehr sorgsam damit, wie über die Eltern gesprochen wird. „Es ist nicht unser Auftrag, und wir sagen es auch nie: zu Hause ist schlecht“, so Svacina. Vielmehr würden die MitarbeiterInnen sagen, dass einzelne Aspekte schlecht waren. Denn: „Eltern per se sind niemals schlecht, wurscht, was sie gemacht haben. Denn es kann daheim noch so schlecht sein: Zu Hause ist es immer besser.“

Mehr Info unter:
www.volkshilfe-wien.at/wohngemeinschaften