Studienautor Korchide über die Bedeutung von Religion bei muslimischen Jugendlichen der zweiten Generation in Österreich. (Ein Interview für derStandard.at)


Der Religionswissenschafter Mouhanad Korchide befragte muslimische Jugendliche in Österreich zur Bedeutung von Religion. Von den Ergebnissen war er teilweise „selbst überrascht“: So besteht beispielsweise kein direkter Zusammenhang zwischen Religion und patriarchalen Vorstellungen. Auch andere Vorurteile gegen Muslime konnten weitgehend widerlegt werden: 90 Prozent der befragten Jugendlichen stehen der österreichischen Gesellschaft weder ablehnend gegenüber noch hängen sie radikalen Vorstellungen an. Die Fragen stellte Sonja Fercher.

derStandard.at: Verfolgt man die Debatte über den Islam, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Mehrheit der Muslime Anhänger einer strengen Auslegung des Koran sind, ja gar radikalen Thesen anhängen. Wie groß ist ihr Anteil unter den von Ihnen befragten Jugendlichen?

Korchide: Der Anteil war verschwindend klein. Wenn man sich zum Beispiel die extremste Form ansieht, also dass selbst Gewalt als legitimes Mittel angesehen wird, so befürwortet noch nicht einmal ein Prozent diese Aussage.

Es gibt gewisse Tendenzen zu einer Gewaltbejahung. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied, ob jemand bereit ist, selbst Gewalt anzuwenden oder aber Verständnis für den Einsatz von Gewalt aufbringt, aber sagt, er selbst würde dies nie tun.

Unter dieser Gruppe waren noch dazu viele Muslime, die den Islam nicht praktizieren und für die Religion überhaupt keine Bedeutung hat. Das ist Ausdruck einer gewissen Frustration, auch einer gewissen Schadenfreude.

derStandard.at: Wie groß ist nun der Anteil jener, die angaben, sich bewusst für eine strenge Auslegung des Islam entschieden zu haben?

Korchide: Zwischen vier und sechs Prozent, nicht mehr. Das ist also eine kleine Minderheit, über 90 Prozent sind „normale“ Muslime.

derStandard.at: Worin sehen Sie die Ursachen dafür?

Korchide: Dafür gibt es verschiedenen Gründe, vor allem psychologische. In der Untersuchung waren es zum Beispiel Probleme in der Kindheit wie etwa bei einer Frau, die das vierte Kind in einer Familie ist, deren Eltern geschieden sind. Die Mutter musste schuften, während die Kinder klein waren, sie waren jahrelang sich selbst überlassen, waren großteils alleine zu Hause. Man merkt, dass das eine verletzte Seele ist, die in ihrem Leben überhaupt keine Strukturen kennen gelernt hat.

Deshalb ist auch ein flexibler Islam uninteressant für sie, sondern sie will genau wissen, wer in die Hölle geht und wer ins Paradies. Es ist eine bestimmte Gruppe von Menschen, die genau wissen wollen, was sie machen sollen und was nicht, die konkrete Praktiken und konkrete Ver- und Gebote suchen.

derStandard.at: Nicht Wenige behaupten, der Islam sei ein Integrationshindernis. Bestätigen die Ergebnisse Ihrer Studie diese These?

Korchide: Wir haben viele provokante Fragen gestellt, wie etwa: Hindert Sie Religion an Wahlen teilzunehmen, an der Gesellschaft zu partizipieren, auszugehen, nicht-muslimische Freunde zu haben? Haben Sie Probleme, Nicht-Muslime zu respektieren?

Die Daten zeigen, dass die breite Mehrheit (95 bis 96 Prozent) keine Probleme religiöser Natur hat, sprich dass ihnen die Religion dieses oder jenes verbieten würde.

derStandard.at: Zu welchen Ergebnissen kamen Sie bei der Frage patriarchaler Einstellungen?

Korchide: Wir haben zunächst abgefragt, wie die Einstellungen der Eltern und die Strukturen im Elternhaus aussehen. Dabei wurden Fragen gestellt wie: „Wer trifft die Entscheidungen bei Ihnen zu Hause?“ oder „Hat die Mutter ein Mitspracherecht?“ Das Ergebnis war, dass fast die Hälfte der Eltern patriarchale Einstellungen vertreten.

derStandard.at: Und die Jugendlichen selbst?

Korchide: Ihnen haben wir Fragen gestellt wie: „Finden Sie, dass es wichtiger ist, dass Burschen eine Ausbildung bekommen als Mädchen?“, „Sollten Frauen eher zu Hause bleiben?“ oder „Ist Kindererziehung die Aufgabe der Frau?“

Dabei stellten wir fest, dass viele Jugendliche mit den Einstellungen der Eltern brechen. Während 50 Prozent der Eltern patriarchale Einstellungen vertreten, stimmten nur 15 Prozent der Jugendlichen diesen zu. Dabei möchte ich aber dazu sagen, dass wir sehr streng vorgegangen sind und jene, die „sehr“ und „eher“ zustimmten, einer Gruppe zugeordnet haben.

derStandard.at: Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

Korchide: Unter den 15 Prozent, die Anhäger patriarchaler Einstellungen sind, waren Burschen in der Mehrheit. Aber es liegt auf der Hand, dass die Mädchen mehr für ihre Rechte einstehen. Erschreckend war allerdings, dass fast 12 Prozent der Mädchen einem traditionellen Frauenbild anhängen, also finden, dass Frauen zu Hause bleiben und nicht arbeiten sollten. Die breite Mehrheit der Jugendlichen, ob weiblich oder männlich, vertritt aber „eher moderne“ oder „moderne“ Vorstellungen der Geschlechterrollen.

derStandard.at: Dies würde der These widersprechen, dass das verstärkte Tragen des Kopftuchs bei Jugendlichen einher geht mit traditionellen Vorstellungen.

Korchide: Wenn man die Faktoren kreuzt, also patriarchale Einstellungen und das Praktizieren der Religion, so kamen wir zu dem Ergebnis, dass unter den praktizierenden Muslimen kaum Vertreter patriarchaler Einstellungen zu finden waren. Das gleiche trifft im übrigen bei der Befürwortung von Gewalt zu.

Daraus zogen wir den Schluss, dass hier vielmehr soziale Faktoren zum Tragen kommen: Bei jenen, die aus dem ländlichen Raum kommen, wo es üblich ist, dass die Frau zu Hause ist, ist auch die Zustimmung für die Aussage „Die Frau soll zu Hause bleiben und nicht arbeiten gehen“ höher.

Es gibt aber überhaupt keinen Zusammenhang zwischen dem Praktizieren der Religion und dem Vertreten von patriarchalen oder gewaltbejahenden Einstellungen, ganz im Gegenteil. Das hat selbst uns erstaunt.

derStandard.at: Wie steht es um die 90 Prozent „normaler“ Muslime: Welche Bedeutung hat Religion für sie?

Korchide: Die Untersuchung zeigt, dass es eine große Bandbreite an verschiedenen Bedeutungen gibt. Pauschal gesagt hat Religion für über zwei Drittel bzw. fast drei Viertel der Jugendlichen fast keine Bedeutung in ihrem Alltag. Sie ist zwar Teil einer kollektiven Identität „Wir Muslime“, aber ein Teil, der eher im Hintergrund steht.

derStandard.at: Wie teilt sich der Rest auf?

Korchide: Ein Viertel sind so genannte „eher Aufgeklärte“. Diese findet man eher bei Akademikern oder bei Menschen mit höherem Bildungsstatus. Sie reflektieren etwas mehr über Religion, wenden sich ihr eher aus spirituellen Gründen zu oder sehen sie als ethische Grundlage und nicht mehr.

Es handelt sich dabei um einen sehr individuellen Zugang und sie basteln sich auch eine Art hybriden Islam. Sie definieren sich als europäische Muslime und sehen keinen Widerspruch in der Eigendefinition als Muslime und als Österreicher. Mehrheitlich sind sie auch praktizierende Muslime.

derStandard.at: Sie haben in Ihrer Untersuchung den Begriff „Schalenmuslime“ eingeführt, sprich Jugendliche, für die Religion im Alltag keine Bedeutung hat und die sie auch nicht praktizieren, in ihr aber ein Mittel für eine „aufwertende Identität“ sehen. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Korchide: Die zweite Generation sieht Europa überwiegend als ihre Heimat an. Die Jugendlichen berichten etwa davon, dass sie als Ausländer angesehen werden, wenn sie in den Herkunftsländern ihrer Eltern Urlaub machen. Oftmals sprechen sie die Muttersprache der Eltern nur mit Akzent. Daher wollen sie nach zwei Wochen wieder zurück in ihre Heimat Europa oder Österreich.

Hier angekommen, erwarten sie, dass sie sich heimisch fühlen, schließlich haben sie keine andere Heimat mehr. Daher erwarten sie von der hiesigen Gesellschaft, dass sie sie auch so aufnimmt – ja, die Erwartungen sind sogar ziemlich hoch. Das bewirkt, dass sie übersensibel auf Ablehnungserfahrungen reagieren.

derStandard.at: Ist diese Ablehnung so präsent?

Korchide: Das Interessante ist, dass nur wenige von direkten, aktiven Diskriminierungen erzählen können, also dass sie verspottet, beschimpft oder gar geschlagen wurden. Wovon sie mehr berichten ist dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, weil sie von den Österreichern immer als „die anderen“ gesehen und auch so bezeichnet werden. Sie sind aber hier in den Kindergarten und in die Schule gegangen, sprechen Deutsch. Sie nehmen diese Unterschiede selbst nicht wahr.

Leider führen wir das auch im wissenschaftlichen Diskurs weiter, dadurch dass wir sie als „Zweite Generation“ bezeichnen, also nicht als Österreicher. Ihnen hängt immer ein Merkmal an, mit dem ihnen vermittelt wird: „Ihr seid nicht normal, ihr seid keine Österreicher.“

Gerade in der Pubertät aber etabliert sich die individuelle Identität. Es kann zu großen Enttäuschungen kommen, wenn Fremdzuschreibungen wie „Ausländer“ oder „Muslime“ gemacht werden. Das kann dazu führen, dass Religion in den Vordergrund rückt, dass sich die Jugendlichen vermehrt mit dem Islam identifizieren und sagen, „Wir sind stolze Muslime“. Und zwar selbst dann, wenn sie den Islam an sich nicht wollen, weil sie keine Restriktionen wollen wie nicht ausgehen oder keinen Alkohol trinken,…

Diese Hinwendung zum Islam ist also eigentlich eine Reaktion auf Fremdzuschreibungen. Interessant dabei ist, dass sich viele Jugendlichen eigentlich nicht für Religion interessieren, sie nicht praktizieren und auch nicht auf religiöse Symbole zurückgreifen. Die einzige Ausnahme ist das Kopftuch, auf das Mädchen zurückgreifen, um sich zu solidarisieren und eine Wir-Identität bilden zu können, die Kraft gibt.

Zur Person:

Mouhanad Korchide arbeitet bei der Forschungseinheit „Islamische Religionspädagogik“ am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islam und Aufklärung, Jugendliche und Religiosität sowie Religionsunterricht im europäischen Vergleich. Außerdem ist er Lehrbeauftragter der Islamischen Religionspädagogischen Akademie.

Im Rahmen der Studie über die soziale Integration ausländischer Jugendlicher der zweiten Generation, deren Ergebnisse im Buch „Leben in zwei Welten“ zusammengefasst werden, befasste er sich mit dem Kapitel Religion.

Die im Rahmen der Untersuchung Befragten waren zwischen 16 und 26 Jahre alt. Rund die Hälfte der Jugendlichen stammte aus Wien, die andere Hälfte aus den westlichen Bundesländern (Salzburg, Tirol und Vorarlberg). Im Mittelpunkt stand die Frage, welche Bedeutung der Islam im Alltagsleben der Jugendlichen hat und inwieweit Religiosität oder die Religion Auswirkungen auf ihr Verhalten hat.