Es geht einfach nicht anders, ich muss der Frau meine Hand auf die Schulter legen. Tränen strömen ihr über die Wangen, sie bleibt stehen und stützt sich auf ihrem Gehstock ab. „Was sollen wir nur tun?“, stellt sie eine jener Fragen, auf die man nicht nur in Frankreich versucht, eine Antwort zu finden.
Kopfschüttelnd steht sie neben dem Blumen- und Kerzenmeer, das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Bataclan immer weiter auszubreiten scheint. „Ich weiß auch nicht“, gestehe ich ihr, denn auch ich fühle mich einfach nur ratlos. „Darüber reden, sich trösten und auch weinen“, sind die einzigen Gedanken, die ich in Worte zu fassen in der Lage bin. „Wie kann man angesichts dessen nicht weinen?“, erwidert die ältere Frau. Ich kann ihr nur zustimmen.
Die Anschläge sind zu diesem Zeitpunkt fast zwei Wochen her. Anlass meiner Paris-Reise war ursprünglich eine berufliche Besprechung. Seit den Anschlägen wollte ich umso mehr hinfahren. Um meine FreundInnen zu besuchen. Und weil ich mir selbst ein Bild machen wollte, selbst versuchen wollte zu begreifen, was so unbegreifbar scheint. Und doch wird es um keinen Deut begreifbarer, wo ich nun an eine der Gedenkstätten der Anschläge vom 13. November stehe.
Es ist eine spezielle Stimmung, die an jenen Orten herrscht, an denen der Opfer vom 13. November gedacht wird. Direkt vor dem Bataclan und gegenüber, in der Mitte des boulevard Richard Lenoir, herrscht eine Ruhe, wie man sie von Friedhöfen kennt – während der Verkehr rundherum in seiner gewohnten Lautstärke vorbeifließt. An diesem Tag ist das Wetter freundlich, weshalb viele Menschen sich hierher begeben haben. So zumindest interpretiert es eine Mitarbeiterin im nahe gelegenen Supermarkt.
Die BesucherInnen studieren die vielen Texte, die dort hängen, verfasst von Angehörigen und FreundInnen der Opfer, von Fremden oder Schulklassen. So wie sie gehe ich langsam den Gehsteig entlang, lasse alles auf mich wirken, halte an vor Blumengestecken und Solidaritätsbekundungen aus allen möglichen Ecken der Welt. Viele legen Blumen nieder, zünden mitgebrachte Kerzen an oder bringen inzwischen erloschene wieder zum Brennen. Sie trauern, gedenken oder würdigen die Opfer.
Die meisten BesucherInnen scheinen in sich und ihre Gedanken versunken zu sein. Andere trösten sich gegenseitig oder diskutieren. Viele machen Fotos, von der Gedenkstätte oder auch vom Bataclan selbst, an dessen Eingang immer noch die Ankündigung für das Konzert des besagten Abends hängt. So auch ich. Auf einmal wird die Stille abrupt unterbrochen, aus einem der vorübergehenden PassantInnen platzt unvermittelt der Kragen: „Yes, take pictures of horror, you stupid assholes“, schimpft er und geht wutentbrannt weiter. Autsch, da ist es, das schlechte Gewissen. Denn was tue ich da eigentlich? Keine meiner Freundinnen, keiner meiner Freunde wurde – zum Glück – direkt getroffen. In Paris lebe ich gerade auch nicht. Und doch bin ich zutiefst betroffen von diesen unfassbaren Gewaltakten.
Als ich vor dem Bataclan stehe, wird mir auf einmal bewusst, dass dieser Ort näher an meiner damaligen Wohnung liegt, als ich es nach bald 15 Jahren in Erinnerung hatte. Ein paar Schritte weiter liegt die Post, in der ich damals vor meiner Rückkehr nach Wien meine letzten Sachen aufgegeben habe. Ein paar hundert Meter in die andere Richtung liegt die Busstation, bei der ich so oft gestanden habe. Gleich davor ist der Boulevard, den ich mit Freunden gemeinsam so ausgelassen entlang gerollert bin oder wo ich an Markttagen so oft eingekauft habe.
Trotzdem lässt mich eine Frage nicht mehr los: Ist es wirklich so übertrieben, wie ich mich fühle, wie manche meinen: Sehr nachdenklich, ein wenig schockiert und unendlich traurig? In meinem Kopf hallt ein vorwurfsvoller Satz wieder: „Dass sich alle von Paris so schockiert zeigen, ist rassistisch. Wenn im Nahen Osten oder in Afrika Anschläge verübt werden, kratzt das niemanden.“ Hier, vor Ort, in Paris, scheint mir all das weit weg.
Nun habe ich in der Tat eine sehr enge Beziehung zu dieser Stadt und zu manchen ihrer BewohnerInnen. Nur bei allen Unterschieden ist Paris doch eine Stadt wie so viele andere in Europa, in der man vielleicht schon einmal war oder die man noch besichtigen möchte. Das lässt die Vorstellung realer werden, dass man vielleicht sogar selbst auf einer dieser Terrassen sitzen hätte können. Dass es solche Terrassen an vielen anderen Orten dieser Welt genauso gibt, ist wahr. Dass das nur wenige so wahrnehmen, ist in der Tat auf eine gleichsam ethnozentrische wie auf negative Nachrichten ausgerichtete Berichterstattung zurückzuführen, die auch aus Paris auf einmal ein unglaublich gefährliches Pflaster gemacht hat.
Nun, da ich die vielen Solidaritätsbekundungen aus aller Welt sehe, bei der Gedenkstätte vor dem Bataclan sowie rund um die Statue an der place de la République, zu der ich in Gedanken versunken weiter spaziere, wirkt dieser Vorwurf wie eine Stimme aus einer anderen Welt. Und auf einmal wird mir sonnenklar, was mich an diesen Vorwürfen so stört: Dass sie weniger Empathie mit den Pariser Opfern verlangen, weil sie gegenüber Opfern in anderen Gegenden der Welt nicht ausreichend gezeigt wird. Es ist die Abgebrühtheit dieser Aussage, die mich so sehr mitnimmt.
Dazu kommt, dass hier, vor Ort, vieles anders wirkt. Ich kann sie kaum noch aufzählen, die Solidaritätsbekundungen aus der ganzen Welt, ob aus der Kabylei, Kurdistan, Syrien (etwa aus Kobane), Mali (Bamako) oder auch von der koreanischen Pariser Community, um nur einige Beispiele zu nennen. „Es war einfach unglaublich, von wo überall auf der Welt ich Solidaritätsbekundungen bekommen habe“, wird mir später ein Freund erzählen. Ich sehe aber auch viele Solidaritätsbekundungen von Frankreich in die Welt hinaus.
Auch werden er und andere FreundInnen mir erzählen, wie sie den Abend verbracht haben und wie sie selbst mit dem Erlebten umgehen. Manche scheinen erstaunlich gelassen zu reagieren, ganz nach dem kurz nach den Anschlägen ausgegebenen Motto: „Même pas peur“, „Nicht einmal Angst“. Eine Freundin wiederum stört sich genau an dieser Aussage: „Was soll das heißen? Es ist doch ganz normal, dass so etwas Angst macht“, ärgert sie sich.
Manche meiden die Öffis oder Orte mit vielen Menschen, andere leben weiter wie bisher – zumindest oberflächlich betrachtet. Trotz des Ausnahmezustands wirkt die Stadt sehr normal, dass sie es doch nicht ist, wird mir bewusst, als ich in der Gegend von Les Halles eine Militär-Patrouille in eine Weggehgegend einbiegen sehe. Ansonsten bleibt bei mir allem ein Eindruck hängen: Es ist so wie immer und doch irgendetwas völlig anders.
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Rathaus des 11. Arrondissements mit dem Pariser Wahlspruch „Fluctuat nec mergitur“, im 11e liegt unter anderem der Bataclan:
Boulevard Richard Lenoir gegenüber des Bataclan:
Das Gebäude im Hintergrund links ist der Bataclan:
Wohl wissend dass Superlative in diesem Zusammenhang mehr als unpassend sind möchte ich trotzdem mein Erstaunen und meine Betroffenheit zum Ausdruck bringen. Der vorliegende Artikel beschreibt das Unbeschreibliche, Unfassbare in einer Art und Weise die ich bis dato nicht kannte. Ganz wesentlich finde ich den Hinweis auf das subjektive Empfinden dieses Wahnsinns in Abhängigkeit von der geographischen Entfernung. Nicht wirklich überraschend gibt es eine Korrelation zwischen Betroffenheit und Distanz, aber so ticken wir Menschlein nun einmal. Weiters möchte ich dem von mir hochgeschätzten Dr.Christian Rainer vehement widersprechen, der in der letzten Ausgabe von Profil meinte wir müssen uns an den Terror in Europa gewöhnen. Das kann und werde ich in dieser Weise nie akzeptieren, weder in Europa noch sonst irgendwo auf unserem wunderbaren Planeten. Dieses Bekenntnis wäre ein Kniefall vor Gewalt als Machtinstrument die letzendlich , und das hat die Geschichte bewiesen, nie siegen kann.