Wie es der Zufall manchmal will: Am letzten Tag meines Berlin-Aufenthalts besichtigte ich den Grenzübergang an der Bornholmer Straße und traf am frisch eingeweihten „Platz des 9. November“ auf mehrere ZeitzeugInnen, die immer noch darüber staunen, dass sich an jenem Abend tatsächlich die Grenzen öffneten.

***

„Waren Sie auch hier?“, fragt der ältere Herr, der vor einer der Ausstellungstafeln am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße steht. „Ich war hier!“, sagt er und zeigt auf das Foto, das dort zu sehen ist. Darauf zu sehen ist der Grenzübergang, die Tore stehen weit offen und Menschen drängen auf die andere Seite. „Die müssen da ungefähr eine halbe Stunde offen sein“, schätzt er und versucht, den Abend noch einmal zu rekonstruieren, so wie er ihn erlebt hat.

bornholmer„Wissen sie, da war ein Fußballspiel, bei dem ich war. Auf dem Heimweg bin ich hier vorbei gekommen, aber da waren die Tore noch zu. Als ich zu Hause dann in den Nachrichten hörte, dass die Grenzen offen waren, bin ich sofort wieder zurückgekommen. Sehn´se: Das bin ich!“, sagt er und zeigt auf die Ausstellungswand. Und tatsächlich: Auch wenn das Bild an der Stelle, auf die er hindeutet, nicht sonderlich scharf ist, so ist sein rundes Gesicht darauf doch deutlich erkennbar. Bis heute ist ihm das Glück ins Gesicht geschrieben, das er an jenem Abend empfunden haben muss.

Er war einer von vielen tausend Menschen, die am Abend des 9. November 1989 zum Grenzübergang an der Bornholmer Straße kamen. „Ich hab mich auf dem Bild gesucht, ich wusste ja, dass ich da war. An der Jacke habe ich mich erkannt“, erzählt der Herr und ergänzt schmunzelnd: „Ich hatte da schon den Schlafanzug an und habe nur die Jacke und eine Hose drübergezogen.“ Wie die meisten konnte auch er es erst kaum glauben, dass die Grenze wirklich offen ist – und er wollte natürlich hinüber nach Westberlin. Was ihm auch gelang, doch neben der Freude war da die Aufregung darüber, dass dies nun wirklich Realität war: „Als ich auf der Brücke war, ist mir richtig schlecht geworden“.

Vom Grenzübergang ist heute nichts mehr da, die Mauer an der Seite aber steht noch. Sie führt entlang der Straße, die in die Brücke mündet, und sollte verhindern, dass Menschen zu den darunter liegenden Bahngleisen gelangen konnten. Von einem Turm aus, von dem nur noch das Fundament zu sehen ist, wachten die Grenzer darüber, dass nur ja niemand einen Fluchtversuch unternimmt.

Unten gab es bis 1989 zwei Trassen: Die eine lag im Westen, die andere im Osten, getrennt waren sie durch eine doppelte Mauer und auf beiden Seiten fuhren die Schnellbahnen. Der Bahnhof aber war stillgelegt, er lag im Ostteil und die S-Bahn fuhr nur durch, damit nur ja niemand flüchten konnte. All das ist lang vorbei und die meisten Spuren sind weg, mehr als 20 Jahre später wurde nun eine Gedenkstätte an diesem Ort eröffnet, zu der auch die Tafel gehört, vor der sich inzwischen weitere ZeitzeugInnen eingefunden haben.

Eine Dame im Rollstuhl mischt sich in das Gespräch ein, auch sie war da an jenem 9. November 1989, allerdings im Westen. Ihre Erzählung gleicht seiner und der vieler ZeitzeugInnen in einem Punkt: „Ich konnte es kaum glauben, als sie sagten, die Grenze sei offen.“ Auch ein Mann aus Erfurt schaltet sich ein: „Erst als Schabowski gesagt hat, die neue Reiseregelung gelte ab sofort, habe ich eine Flasche Sekt aus dem Schrank geholt und sie geköpft.“

Denn der Druck auf die DDR-Führung hatte zwar deutlich zugenommen, aber dass ausgerechnet an diesem Abend die Mauer fallen würde, damit hatten dennoch die wenigsten gerechnet. Den Weg dazu freigemacht hatte eben jener Herr Schabowski. Bei einer Pressekonferenz erklärte er, angesprochen darauf, wann die neue Reiseregelung in Kraft trete: „Sofort und unverzüglich“. Sofort und unverzüglich begaben sich denn auch die Menschen an den Grenzübergang und machten Druck.

Auch heute noch ist vor allem ein Gefühl da: Was an diesem Abend passierte, war überwältigend, und dass alles friedlich ablief, grenzt an ein Wunder. „Der Chef des Übergangs, der Herr Jäger, war ja die ganze Zeit mit seinen Vorgesetzten in Kontakt, aber als die ihm keine Anweisungen gegeben haben, hat er dann den Übergang in Eigenverantwortung geöffnet“, erzählt der Erfurter. “ Da war es bereits 23 Uhr 30. Und der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt.

Um an die Ereignisse zu erinnern, wurde der Platz, an dem früher die Grenzkontrollen stattfinden, am 21. Jahrestag der Ereignisse zum „Platz des 9. November“. In den Boden eingelassen sind Metallstreben, auf denen angeordnet entlang der Straße, auf denen von 9 Uhr morgens weg die Chronologie des  – bis halb 12 Uhr nachts, als der Leiter des Grenzübergangs dem Druck der vielen Menschen nachgab und die Grenze öffnete – und Menschen wie jenem Herren vom Foto den Weg in den Westen ebnete und Deutschland zur Wiedervereinigung in einem demokratischen Staat.