Es ist ein Mitschnitt, der zu denken gibt: Mitten in der Menge der Feiernden in Alger erhebt sich die Statue der Jeanne d´Arc, Symbol des französischen Nationalismus, umringt und erklommen von AlgerierInnen, die die Fahne der algerischen Befreiungsbewegung FLN schwenken. De Statue selbst ist eingehüllt im typischen weißen Schleier der Algerierinnen, vor dem Mund trägt sie den zu diesem Schleier gehörenden weißen Mundteil.

Gezeigt wird diese Szene im Film „1962, de l´Algérie francaise à l´Algérie algérienne“ von Marie Colonna et Malek Bensmaïl. Es ist der 5. Juli 1962 und Algerien hat gerade erst seine Unabhängigkeit errungen. In ihrem Film zeigen die beiden in Algerien aufgewachsenen FilmemacherInnen die Vorgeschichte und die ersten, schwierigen Gehversuche dieser neuen Republik. Der Film ist einer von vielen, die anlässlich des 50. Jahrestags der algerischen Unabhängigkeit in Paris gezeigt wurden und werden – und sicherlich einer der besten, da er diese komplizierte Geschichte in einer bewunderswerten Vielschichtigkeit erzählt.

Die Unabhängigkeit Algeriens: Sie wurde errungen in einem langen und harten Kampf gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreice. Diese beanspruchte diesen Fleck Erde so selbstverständlich für sich, dass es ihr bis heute schwer zu fallen scheint, mit diesem Teil der Vergangenheit umzugehen. Man muss nur daran denken, dass das heutige politische System Frankreichs auf einen Putschversuch im Jahr 1958 zurückgeht, der von französischen Nationalisten in Algerien aus „Sorge“ um dieses Kolonialgebiet gestartet wurde – und der es Charles de Gaulle ermöglichte, in die Politik zurückzukehren und eine französische Republik nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

So nimmt es kaum Wunder, dass es beiden Seiten schwer fällt, sich mit dieser gemeinsamen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Denn die Geschichte der beiden Länder ist einfach zu sehr miteinander verwoben. Es ist eine sehr treffende Karikatur, die die Bilbliothèque Nationale Francaise kürzlich in der Ausstellung „France-Algérie : dessins de presse“ zeigte: Zu sehen ist ein aufgeschlagenes Buch, wobei ein Franzose und ein Algerier versuchen, jene Seite umzuschlagen, in der es um den Algerien-Krieg geht – vergebens.

Denn nicht nur in der Vergangenheit sind die Schicksale der Menschen aus beiden Länder zu sehr ineinander verzahnt und zugleich auch belastet, als dass eine Trennung so einfach gelingen würde können. Den Hintergründen für den Unabhängigkeitskampf geht der Film „Chronique des années de braise“ aus dem Jahr 1975 nach. Dieser macht sehr deutlich, dass das französische Algerien schlichtweg keine Zukunft mehr haben konnte, zu groß war die Kluft zwischen den französischen Staatsangehörigen und Einheimischen. Zu groß war auch der Widerspruch zwischen Demokratie und Unterdrückung. Der Film erzählt auf sehr beeindruckende Art und Weise die lange Vorgeschichte des Unabhängigkeitskrieg.

Eine andere Perspektive wiederum zeigt der Film „Troufions“, in dem die Unrechtmäßigkeit des Kriegs bzw. des Kolonialismus zum Thema gemacht werden. „Wir sahen Bauern, die mit zwei Kühen auskommen mussten – und ich bin selbst Bauer und verstand, dass da etwas nicht stimmte“, erzählt darin ein französischer Zeitzeuge, der als junger Soldat nach Algerien abkommandiert worden war. „Als ich dann die reichen Kolonialisten sah, fragte ich mich, für wen wir hier eigentlich Krieg führen.“ Der Mann ist einer von vier Soldaten, die darin zu Wort kommen – und zum ersten Mal über ihre Zeit in Algerien sprechen. Bis auf eine Ausnahme sehen sie diesen Krieg kritisch, sprechen über Kriegsverbrechen, deren Zeugen sie wurden.

Doch es wäre eine zu einache Geschichtsschreibung, würde man so tun, als wäre die Wurzel des Problems allein im Umgang der ehemaligen Kolonialmacht mit seinen früheren Unterworfenen zu suchen sowie in ihrem schwierigen Umgang mit den MigrantInnen aus ihrem ehemaligen Hoheitsgebiet. So einfach ist Geschichte schließlich nie. Algerien wurde am 5. Juli 1962 unabhängig. Doch was sollte mit den französischen SiedlerInnen passieren, den so genannten „pieds noirs“? Heutzutage hört man von ihnen in der politischen Diskussion vor allem dann, um das starke Abschneiden des Front National im Süden Frankreichs zu erklären, in dem sich viele von ihnen nach 1962 niederließen.

Doch nicht alle pieds noirs waren auch Kolonialisten und nicht alle sahen in den AlgerierInnen Menschen zweiter Klasse. Davon zeugen nicht nur die Interviews, die im Film „1962“ gezeigt werden. Am eindrücklichsten wird dieses Spannungsfeld im Film „El Gusto“ gezeigt. Darin geht es um eine Musikgruppe mit dem gleichen Namen aus Algier. Alle Musiker wuchsen in der Kasba von Algier auf, sie sind Algerier, pieds noirs, Juden. Im Film werfen sie wehmütige Blicke zurück auf das friedliche Zusammenleben der Menschen aus verschiedenen Kulturen in der Kasba. Erst  durch den Unabhängigkeitskampf wurden diese Unterschiede auf einmal zum Thema. Die Unabhängigkeit Algeriens riss dieses multikulturelle Orchester schließlich auseinander – um durch eine junge Architektin fast 50 Jahre später wieder zusammengebracht zu werden, eine Art algerischer Buena Vista Social Club sozusagen.

Doch zurück zur Jeanne d´Arc und nach Algerien: Diese Szene sorgte für großes Gelächter im Pariser Kinosaal, in dem ich den Film kürzlich ansah. „Das ist grandios!“, meinte meine Sitznachbarin. In der Tat kann man nicht anders als laut aufzulachen, genau dieses Symbol des französischen Nationalismus erobert zu sehen. Zugleich aber wirft der Schleier aus heutiger Sicht einen langen Schatten voraus auf die schwierige und schmerzhafte Geschichte Algeriens im Zeichen des Islamismus.

Hier öffnet sich ein weiterer Kreis: Immerhin sind einige AlgerierInnen angesichts dessen nach Frankreich geflüchtet. Aber auch unabhängig davon wanderten viele Algerier nach Frankreich aus. Somit bleibt das Schicksal der Menschen aus diesen beiden Ländern weiterhin miteinander verwoben.

In Algier wird der Jahrestag der Unabhängigkeit natürlich mit Pomp und Gloria gefeiert. Doch es ist ein ambivalenter Jahrestag, immerhin ist Algerien selbst noch weit davon entfernt, befriedet zu sein, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Problemen des Landes. Aber auch von Frankreich aus gesehen bleiben im Zusammenhang mit Algerien noch einige Fragen offen, mit denen man sich auf beiden Seiten des Mittelmeers wohl noch eine Weile wird auseinandersetzen, bis sie die Seite im Geschichtsbuch umlegen und ein neues Kapitel aufschlagen können.

Links:

Zeit: „Algerien, vom Arabischen Frühling unberührt“

Deutschlandfunk: „Als eine der neuen Nationen werden wir vorurteilslos und fair handeln“

Tageswoche (CH): Wenn Algerien feiert, schaut Frankreich weg

Spiegel: „Frankreichs algerische Hilfssoldaten Gefoltert, ermordet, vergessen“

Kurier: Algerien: Feierlaune im autoritären Staat

Tagesschau: „Die letzte Generation der Pieds Noirs“

Standard: Algerien entschädigt Opfer des „dunklen Jahrzehnts“ 

taz: „Algeriens Unabhängigkeitskrieg: Die Asche meines Vaters“