Soziologe Hugues Lagrange über die neue Dimension der Unruhen und die anhaltenden Probleme in den Banlieues. (Ein Interview für derStandard.at)
Zwei Jahre nach den Unruhen in den französischen Vorstädten brannten Anfang dieser Woche wieder Autos. Anders als damals aber richtete sich die Aggression der Randalierer nicht nur auf Dinge, sondern auch auf Menschen, ja es wurde gar mit scharfer Munition geschossen. Im Interview mit derStandard.at zeigt sich der Soziologe Hugues Lagrange erstaunt, dass nicht nur Jugendliche, sondern auch deren Eltern an den Unruhen teilnahmen. Dies deute darauf hin, dass sich hier nicht nur die Wut der Jugendlichen entlade, sondern dass es in den Banlieues nach wie vor viele Probleme gibt. Das Gespräch führte Sonja Fercher.
derStandard.at: Es scheint, als wäre in Frankreich niemand so recht überrascht über diesen neuerlichen Ausbruch der Gewalt. Auch Sie nicht?
Hugues Lagrange: Alle Beobachter sind sich einig, dass das wenig überraschend ist, aber dass dennoch eine neue Dimension erreicht wurde. Noch ist eine Analyse schwierig, aber viele der Probleme sind nach wie vor ungelöst.
Nach wie vor herrscht in diesen Vierteln das Gefühl vor, Diskriminierungen ausgesetzt zu sein und in einem Ghetto isoliert zu werden. Zudem gibt es enorme Spannungen zwischen den Jugendlichen und der Polizei. Vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund haben große Ressentiments, weil sie ständig Kontrollen über sich ergehen lassen müssen. In einem Kontext wie diesem, geht es wohl darum, Revanche für die täglich erlittenen Erniedrigungen zu nehmen.
derStandard.at: Im Unterschied zu den Unruhen im November 2005 sind dieses Mal Waffen im Spiel. Wie erklären Sie diese massive Radikalisierung?
Lagrange: Es sind ganz offensichtlich mehr Waffen im Umlauf als noch vor zwei oder drei Jahren. Auch die Art der Waffen ist neu, also dass auch Kleinwaffen und militärische Waffen verwendet werden – wenn auch nicht massiv, aber immerhin wurde mit scharfer Munition geschossen.
Ich vermute, dass die stärkere Verbreitung von Waffen mit dem Drogenhandel zu tun hat, vor allem mit dem Aufkommen von Crack. Crack war in Frankreich nie besonders verbreitet, aber die Indizien deuten darauf hin, dass sich das geändert hat.
derStandard.at: Es gibt immer mehr Stimmen, die meinen, es sei naiv, Ereignisse wie diese auf Diskriminierungen zurückzuführen. Vielmehr müsse man sich damit auseinandersetzen, dass da schlichtweg Verbrecher am Werk sind.
Lagrange: In der Altersgruppe, die hier relevant ist, leben in Villiers-le-Bel zwischen 3.000 und 4.000 Jugendliche. Wenn nun 400 bis 500 an den Unruhen beteiligt waren, sind das mehr als zehn Prozent. Das belegt, dass es sich hier nicht einfach nur um eine Bande von Verbrechern handelt.
Wenn ich zudem sehe, dass auch Eltern der Jugendliche involviert sind, dann scheint es da schon etwas zu geben, das über die Wut der Jugendlichen hinaus geht. Hier drückt sich das Ressentiment der Menschen aus, die in diesen Vierteln leben. Sonst würden die Eltern das Handeln der Jugendlichen nicht schweigend dulden oder gar mitmachen.
Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen: Es gibt 750 Viertel mit sozialem Wohnbau, wenn man noch jene 300 dazu rechnet, die nicht offiziell als solche klassifiziert sind, in denen es aber Probleme gibt, reden wir von ungefähr 1.000 Kommunen, in denen ähnliche Verhältnisse herrschen. Von den Unruhen diese Woche waren vielleicht zehn betroffen.
derStandard.at: Vor zwei Jahren versprach der damalige Premier Dominique de Villepin, die Lage der Problemviertel zu verbessern. Hat die Politik versagt?
Lagrange: Mir scheint, dass sich die Niederlage der Republik weniger in der Stadtpolitik widerspiegelt. Man wird erst in zehn Jahren ernsthaft einschätzen können, ob die versprochenen 42 Milliarden Früchte tragen werden, das sind immerhin keine Peanuts.
derStandard.at: Präsident Nicolas Sarkozy versprach noch als Innenminister, die Ordnung wiederherzustellen. Ein Scheitern seiner Sicherheitspolitik?
Lagrange: Es ist immer schwer, solche Dinge zu kontrollieren, aber mir scheint, dass tatsächlich ein Scheitern der Sicherheitskräfte vorliegen konnte. Ein Problem ist die mangelnde Verankerung der Polizei vor Ort nach Abschaffung der Nachbarschaftspolizei.
Außerdem scheinen sie nicht ausreichend gegen die Schattenwirtschaft und den Drogenhandel vorgegangen zu sein, die in den Vierteln sehr große Bedeutung haben. Dieses Versäumnis ging sozusagen eine Synergie mit den anderen erwähnten Problemen in den Vierteln ein.
derStandard.at: Villiers-Le-Bel, so hieß es, sei kein typisches „sensibles Viertel“. Stimmt das?
Lagrange: Nein, die Indikatoren sprechen dagegen: Der Anteil der Nicht-EU-Bürger beträgt sieben Prozent, damit liegt Villiers-le-Bel im Département Seine St. Denis im Spitzenfeld. Den Rekord hält Chanteloup-les-Vignes mit 7,4 Prozent, an zweiter Stelle liegt Cergy-Pontoise mit 7,2 Prozent.
Auch wenn man sich die Größe der Familien ansieht: 10 bis 14 Prozent der Bewohner von Villiers-le-Bel leben in Haushalten mit mehr als 6 Personen, das ist deutlich mehr als der Durchschnitt in Seine St. Denis. Ebenso liegt der Anteil Bewohnern ohne höhere Bildung zwischen 30 und 35 Prozent. Diese Zahlen kommen auch dadurch zustande, dass dort ältere Generationen von Gastarbeitern leben. Dennoch sind all dies Indikatoren.
Ich möchte nicht sagen, dass dort die schlimmsten Wohnverhältnisse herrschen, Les Muraux, Chanteloup-les-Vignes, Clichy oder Aulnay sous Bois sind sicher schlechter dran. Aber Villiers Le Bel ist definitiv eine der Kommunen in der Pariser Banlieue, wo es Probleme gibt.
derStandard.at: Für die Stadtministerin Fadela Amara, die selbst aus einem sogenannten Problemviertel kommt, eine große Herausforderung. Was erwarten Sie von ihr?
Lagrange: Ich bin davon überzeugt, dass es eine starke Politik braucht, die sich auf mittelfristige Ziele in den Bereichen Bildung, Wohnen und Beschäftigung konzentriert. Außerdem müssen die Beziehungen zwischen Polizei und Bevölkerung wieder auf eine solide Basis gestellt werden, und zwar auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts, denn nur dann kann auch das Vertrauen wiederhergestellt werden.
Einen neuen Plan vorzulegen, so als hätte man bislang nichts getan, das wäre ein wenig seltsam. Man darf kurzfristigen Aktionismus nicht mit einem nachhaltigen Engagement verwechseln.
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