Trotz aller Bemühungen der Politik hat sich die Lage der Bevölkerung in den
Problemvierteln der französischen Großstädte verschlechtert. Dafür
verantwortlich sei die Weigerung der franzöischen Gesellschaft, Unterschiede und
damit auch Diskriminierungen anzuerkennen, meint der Soziologe Hugues
Lagrange im derStandard.at-Interview.

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derStandard.at: Brennende Autos sind kein ganz neues Bild in Frankreich. Wie lässt sich das erklären?

Lagrange: Diese „Mini-Aufruhre“, wie ich sie nenne, sind eine französische Spezialität. Während es in Großbritannien aber Auseinandersetzungen zwischen zwei ethnischen Gruppen sind – wenn ich etwa an Birmingham denke -, ist in Frankreich der Staat Ziel der Angriffe sowie alles, was den Staat repräsentiert wie etwa Post, Feuerwehr oder sogar Schulen.

derStandard.at: Innenminister Sarkozy, aber auch die Behörden sprechen inzwischen davon, dass dies keine spontanen Gewaltausbrüche seien. Wie sehen Sie das?

Lagrange: Die Jugendlichen, die hier an den Ausschreitungen beteiligt sind, sind zumeist sehr jung, also 14 oder 15 Jahre alt. Dass es hier Verbindungen zur El Kaida geben soll, ist ein Phantasma. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass es sich um einen kulturellen Konflikt mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund handelt, vor allem aus dem Maghreb.

Was überraschend ist, ist dass eine Reihe von großen, „klassischen“ Vierteln zu Beginn nicht betroffen waren, ich denke da vor allem an dem Osten von Lyon, Marseille oder auch an Vierteln der Pariser Region, in denen es in der Vergangenheit viele Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Jugendbanden gab, wie zum Beispiel das Département Éssonne und das Val de Marne. Natürlich gibt es inzwischen auch dort Aufruhr, aber in den ersten acht Tagen war das nicht der Fall.

Eine große Rolle dürfte der Auslöser gespielt haben, nämlich der Tod der beiden Jugendlichen im Transformatorhaus, und die Emotionalisierung rund um die Tränengasgranaten in der Moschee. Dazu kamen die Aussagen des Innenministers. Deshalb hat sich in Seine St. Denis im Nordosten von Paris sehr viel an Wut entladen und erst jetzt – in einem Prozess der Imitation – zünden die Jugendlichen auch aus jenen Gegenden Autos an, die eine Reputation als „heiße“ Viertel haben.

derStandard.at: Warum attackieren die Jugendlichen eigentlich ihre eigene Umgebung, wodurch sich die Lebensbedingungen in diesen Vierteln noch weiter verschlechtern werden?

Lagrange: Die Randalierer sind sehr jung und nicht organisiert, weshalb sie auch nicht in der Lage sind, die Bewegung zu politisieren. Wenn sie dann versuchen ihren Protest zu äußern, agieren sie leider sehr an der Grenze zur puren Kriminalität. Es ist aber klar, dass sie gegenüber der Polizei nicht so „effizient“ wären – zumal sie ja in kleinen Gruppen agieren – wenn sie außerhalb ihrer Viertel agieren würden, die sie wie ihre Westentasche kennen.

Im Grunde lässt sich das alles sehr einfach erklären: Sie zünden Dinge an, weil dies die einzige Möglichkeit für sie ist, Aufmerksamkeit zu erregen, und sie verbrennen eben, was sie „bei der Hand“ haben. Leider, denn das sind dann wiederum oft die Autos von Menschen, die selbst arm sind.

derStandard.at: Auf der einen Seite wird die mangelnde Polizeipräsenz in den sensiblen Vierteln kritisiert, umgekehrt prangern gerade Jugendliche aus diesen Vierteln die starke Polizeipräsenz an. Woher kommt dieser Widerspruch?

Lagrange: Die Polizei ist im Alltag zu wenig präsent, und wenn sie da ist, so ist ihre Arbeit zu stark auf Konfrontation ausgerichtet, sprich im Sinne der Verbrechensbekämpfung. Die Polizei kann aber nur dann gute Arbeit leisten, wenn sie vor Ort verankert ist. Genau an diesen lokalen Schnittstellen mangelt es allerdings, in den vergangenen fünf Jahren wurden die finanziellen Mittel für Sozialarbeiter sowie lokale Organisationen stark gekürzt und sie haben enorme Schwierigkeiten, ihre Arbeit zu machen. Durch die Abschaffung der „police de proximité“, der „Nachbarschaftspolizei“, hat sich der Aspekt der Konfrontation noch verstärkt.

Für kriminelle Akte gibt es überhaupt keine Entschuldigung, darüber möchte ich gar keinen Zweifel aufkommen lassen. Aber man kann auf eine Entwicklung, die ein solches Ausmaß angenommen hat, nicht mit Gewalt antworten.

derStandard.at: Wie denken Sie, dass es nun weitergehen wird?

Lagrange: Es ist schwierig, hier Vorhersagen zu machen, aber ich halte es für plausibel, dass diese Ausschreitungen noch während dieser Woche weitergehen. Allerdings denke ich nicht, dass sie noch sehr viel länger dauern werden, weil hinter diesen Aufständen keine politische Organisation steckt. Was vor allem jene befürchten, die in den Vierteln arbeiten, ist eine noch weitere Verschärfung der sozialen Spaltung in den Vierteln.

derStandard.at: Seit über 20 Jahren nehmen sich die Regierungen, ob konservativ oder sozialistisch, des Themas der so genannten Banlieues der Großstädte an. Was waren die wichtigsten Maßnahmen?

Lagrange: Zu Beginn der 80er Jahre hat man die Probleme in den Banlieues erkannt. Unter der Regierung von Pierre Mauroy (1981 bis 1984, Anm.) wurden drei Berichte verfasst, die sich mit den Theman Stadt, Sicherheit und Kriminalität sowie Bildung beschäftigten. Daraus zog man den Schluss, dass es einer speziellen Politik bedarf, die sich Politik der Stadt nannte und im Grunde aus einer positive Diskriminierung bestand – damals verwendete man diesen Begriff zwar noch nicht, weil er noch nicht Teil des Vokabulars war, aber im Grunde war es das.

Daraus hervor gingen die „Zones d´Éducation Prioritaires“ (ZEP), die 1982 eingerichtet wurden. Das sind Zonen, in denen es mehr Lehrer gibt, weniger Schüler in den Klassen, nicht unbedingt mehr finanziele Mittel, aber die vor allem eine Verbesserung der Situation in den Klassen zum Ziel hatten. Nach und nach wurden „Conseils Communaux de prévention de la délinquence“, (Kommunale Zentren für Verbrechensprävention), eingerichtet, in denen um den Bürgermeister herum Polizisten, Beamte, aber auch lokale Akteure wie Vermieter, Familienorganisationen, also aus der Zivilgesellschaft versammelt wurden. Damit
wollte man Konfrontationen zwischen den Jugendlichen und der Polizei verhindern.

In den 90er Jahre dann wurde eine „Politik der Stadt“ im eigentlichen Sinn umgesetzt, mit „Zones urbaines sensibles“, „Zones franches urbaines“ (Zonen mit Steuerfreiheit, Anm.), „Zones de Réynamisation urbaine“ usw. Ziel war es zu verhindern, dass die sozialen Einrichtungen aus diesen Vierteln völlig verschwinden. Man begann Gebäude zu renovieren, setzte auf Sozialarbeit sowie machte eine Politik des sozialen Wohnbaus.

derStandard.at: Dennoch hat sich die Situation offenbar nur wenig verbessert, hat die Politik versagt?

Lagrange: Was man nach 20 bis 25 Jahren rückblickend sagen kann ist, dass die soziale Segregation in diesen Vierteln nicht abgenommen, sondern sich sogar noch verschärft hat. Während der Jospin-Regierung 1997-2002 hat sich die
Arbeitsmarktsituation zwar allgemein verbessert, die Arbeitslosenquote der schlechter qualifizierten Arbeitskräfte hingegen blieb auf dem gleichen Niveau wie vorher. Seit 2002 ist die Kluft vor allem in den betroffenen Départements in der Region Paris größer geworden.

In letzter Zeit gibt es zudem eine neue Entwicklung, nämlich dass eine Gentrifikation der „Première Couronne“ von Paris (jene Départements, die direkt an Paris grenzen, Anm.) betrieben wird, dass also versucht wird, die Armen so weit wie möglich an den Stadtrand zu drängen. Das wiederum hat zur Folge, dass die Menschen keine Beziehung zu ihren Vierteln entwickeln, weil sie wissen, dass sie weg müssen, sobald ihr Mietvertrag abläuft.

derStandard.at: Ist es nicht eigentlich paradox, dass beispielsweise jene Jugendlichen, die in den ZEPs zur Schule gingen, die eingerichtet wurden, um sie zu unterstützen, nach wie vor schlechte Chancen haben, Arbeit zu finden?

Lagrange: Ja, natürlich. Auf eine bestimmte Art ist die französische Gesellschaft Opfer ihrer eigenen Weigerung, die kulturellen Unterschiede anzuerkennen. Wenn man nicht zugibt, dass es Unterschiede gibt, ignoriert man
aber auch, dass es in der Praxis Diskriminierungen gibt. (derStandard.at/8.11.2005)

Link: Observatoire Sociologique du Changement